Brot als Nahrung für Leib und Seele

Brot als Nahrung für Leib und Seele

Ein Pil­ger­be­richt

Don­ners­tag, 5. August, mor­gens um kurz nach 5 Uhr in Vollerwiek an der Bade­stel­le am Außen­deich. Es ist bereits hell, aber die Son­ne ist noch nicht auf­ge­gan­gen. Die Luft ist klar und vom Regen der ver­gan­ge­nen Nacht wie rein­ge­wa­schen. Nach und nach fah­ren Autos vor. Ein wenig ver­hal­ten, aber doch mun­ter begrü­ßen sich die Men­schen gegen­sei­tig. Es sind ins­ge­samt 13 Pil­ger­freun­de und –freun­din­nen, die sich an die­sem Tag hier ein­ge­fun­den haben. Sie wol­len mit mir eine spi­ri­tu­el­le Mor­gen­wan­de­rung mit der auf­ge­hen­den Son­ne machen. Nach einem gemein­sa­men Gebet geht es los – zunächst auf die Deich­kro­ne hin­auf und dann in Rich­tung Osten. Dort tür­men sich gera­de gro­ße Wol­ken­ber­ge am Him­mel, wäh­rend er genau über uns frei ist. Um 5.36 geht die Son­ne auf, wir kön­nen es nur erah­nen. Aber wir besin­gen den Moment: Vom Auf­gang der Son­ne bis zu ihrem Nie­der­gang sei gelo­bet der Name des Herrn. Und wir neh­men Got­tes groß­ar­ti­ge Schöp­fung mit allen Sin­nen wahr: Wir hören das Sin­gen der Vögel, beob­ach­ten die Scha­fe, sehen die Wei­te von Land, Meer und den Sphä­ren und atmen tief die fri­sche Luft ein.

Auf dem Weg kom­men die Teil­neh­men­den ins Gespräch. Vom Deich bis zur Kir­che sind es noch ein paar Kilo­me­ter, in denen man sich aus­tauscht. Mitt­ler­wei­le hat sich die Son­ne ihren Weg durch die Wol­ken gebahnt, schickt gol­de­ne Strah­len auf den Weg und taucht die Land­schaft in wei­ches Licht. Immer wie­der bleibt jemand ste­hen und staunt. Und singt lei­se vor sich hin: Vom Auf­gang der Son­ne bis zu ihrem Nie­der­gang sei gelo­bet der Name des Herrn.

In der Mar­tins­kir­che fei­ern wir Andacht mit Psalm, Gebet und Lied. Danach sind wir zum Früh­stück im Dorf ein­ge­la­den. Eine Dame, die seit fast 40 Jah­ren ihr Feri­en­haus in Vollerwiek hat und den Som­mer hier ver­bringt, hat­te die Ein­la­dung in ihre Reet­dach­ka­te aus­ge­spro­chen. Und so kamen wir kurz nach 7 bei ihr an. Im Flur bat sie uns um einen Ein­trag ins Gäs­te­buch, dann betra­ten wir die Stu­be, wo der Tisch reich­lich gedeckt war. Bröt­chen und Brot in Wei­den­körb­chen, But­ter und Mar­me­la­de, gekoch­te Eier, Käse und Wurst und vie­les mehr. Der Tisch war nicht nur reich­lich, er war lie­be­voll gedeckt. Und wir lang­ten ger­ne und beherzt zu.

Die Gast­ge­be­rin und ihre Freun­din, die ihr bei den Vor­be­rei­tun­gen gehol­fen hat­te, stan­den. Es gab nicht genug Stüh­le. Sie stan­den und sie erzähl­ten. Vom Haus, von sei­ner Geschich­te, von ihrem Leben. Alle hör­ten gebannt zu. Und dann plötz­lich der Satz: „Und nun möch­te ich etwas von Ihnen hören, nun möch­te ich Ihre Geschich­ten ken­nen­ler­nen.“ Und sie erzähl­ten. Alle nach­ein­an­der. Sei­nen bzw. ihren Namen – so fiel mir auf – nann­te nie­mand. Der war in die­ser Run­de an die­sem frü­hen Som­mer­mor­gen gar nicht wich­tig. Wich­tig war etwas Ande­res: die eige­ne Geschich­te vom Woher und Wohin erzäh­len zu dür­fen — ohne Unter­bre­chung. Und dabei erle­ben zu dür­fen, wie alle ande­ren zuhö­ren. Es war eine Atmo­sphä­re der Wert­schät­zung, des Respekts, der Wär­me. Wir aßen Brot und erhiel­ten – ganz neben­bei – Nah­rung für die See­le – weil wir eine Gemein­schaft erleb­ten, in der trotz aller Fremd­heit offen und ver­trau­ens­voll mit­ein­an­der gespro­chen wur­de. Über Träu­me und Sehn­süch­te, über radi­ka­le Brü­che im Leben, über Ver­än­de­run­gen, über Wit­wen­schaft, über Lebens­mög­lich­kei­ten. Alles wur­de benannt und nichts wur­de kom­men­tiert. Es wur­den kei­ne guten Rat­schlä­ge erteilt. Es wur­de nur gehört, gestaunt und geschaut, dass alle dran­ka­men – an das Brot für den Leib und für die Seele.

In der Apos­tel­ge­schich­te heißt es: Und sie waren täg­lich ein­mü­tig bei­ein­an­der im Tem­pel und bra­chen das Brot hier und dort in deren Häu­sern, hiel­ten die Mahl­zei­ten mit Freu­de und lau­te­rem Her­zen und lob­ten Gott und fan­den Wohl­wol­len beim gan­zen Volk. Das Brot bre­chen, die Mahl­zei­ten gemein­sam ein­neh­men und Gott loben —  das sind ganz offen­bar die zen­tra­len Wesens­merk­ma­le der frü­hen Gemein­den gewe­sen. All das geschah im Tem­pel, aber auch in den Häu­sern. Nicht nur in den Got­tes­diens­ten, son­dern auch beim Früh­stück oder beim Abend­essen. Die Men­schen erleb­ten beim gemein­sa­men Sin­gen, beim Abend­mahl und am gedeck­ten Tisch die Gegen­wart Got­tes, sie spür­ten am eige­nen Leib, was Jesus mit sei­nem Wort vom leben­di­gen Brot mein­te: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hun­gern, wer an mich glaubt, den wird nim­mer­mehr dürs­ten. Es ist ein Wort mit dop­pel­tem Boden, wört­lich und über­tra­gend zu ver­ste­hen. Es spricht das Abend­mahl an, das Bre­chen des Bro­tes als ein Gesche­hen, das uns befreit von Schuld und Angst. Es meint aber auch die gemein­sa­me Mahl­zeit, das Tei­len von Brot und Auf­merk­sam­keit, das Tei­len von Essen und Geschich­ten. In einer Gemein­schaft, die von einem Glau­ben geprägt ist, der den Men­schen mit sei­nen Bedürf­nis­sen in die Mit­te des Gesche­hens holt. Nichts Ande­res hat Gott getan, als er Mensch wur­de. Er hat uns in den Mit­tel­punkt sei­nes Han­delns und Wir­kens gestellt. Er hat durch das Leben und Ster­ben sei­nes Soh­nes einen Rah­men geschaf­fen, der Nähe ermög­licht. Eben­so hat es Jesus getan, als er sei­ne Jün­ger auf­for­der­te, das Abend­mahl wei­ter­hin zu fei­ern, auch nach sei­nem Tod. Und auch der Hei­li­ge Geist schafft die­sen Rah­men, wenn Men­schen im Lob Got­tes mit­ein­an­der ver­bun­den sind und sich am Früh­stücks­tisch ihre Geschich­ten erzählen.

Der rus­si­sche Dich­ter Leo Tol­stoi hat ein­mal fol­gen­des gesagt: Man kann Brot ohne Lie­be geben, aber wenn man Lie­be gibt, so wird man auch immer Brot geben. Brot und Lie­be, Lie­be und Brot gehö­ren zusam­men: Nah­rung für Leib und See­le. Bei­des haben wir an einem August­mor­gen in Vollerwiek in der Reet­dach­ka­te hin­ter dem Deich bekommen.